Viele Eltern halten den privaten Einzelunterricht für das Nonplusultra. Man kann nicht pauschal sagen, dass dies falsch ist. Einzelunterricht ist ein sinnvolles Angebot und kann einem Schüler wirklich helfen. Viel zu Häufig wird aber bei Schulproblemen sofort der Privatlehrer gesucht und teure Nachhilfe bezahlt. Sicher hat das auch mit einem Mangel an vernünftigen Alternativen zu tun. Genau das war ja mein Anliegen bei der Gründung von nachhelfer.org: Eine sinnvolle und preiswerte Alternative zum Einzelunterricht anzubieten, bei der die Selbständigkeit gefördert wird. Dieses Angebot gibt es nun in Form der Mathe-Workshops für die Oberstufe.

Oft wird aber auch Nachhilfe gesucht, obwohl ein anderes Problem zugrunde liegt. Die Probleme in der Schule und insbesondere in Mathe sind dann ein Symptom. Eine Folge des tiefer liegenden Problems. Und das löst man mit Nachhilfe eher nicht. Eltern machen dann die Erfahrung, dass die Noten trotz Einzelunterricht nicht besser werden.

Das wäre doch mal ein Grund, das Ganze zu hinterfragen. Das wird aber viel zu selten gemacht. Häufig wird der Druck auf das Kind erhöht, es folgen Beschimpfungen der Sorte „Du bist faul“ oder es wird dem Nachhilfelehrer die Schuld gegeben. Es kann sein, dass das Kind faul ist und es kann sein, dass der Nachhilfelehrer schlecht ist. Im ersten Fall kann man sich die Nachhilfe dann sparen oder man muss Anreize finden. Im zweiten Fall müsste der Wechsel des Lehrers eine signifikante Verbesserung bringen. Oft wird aus Angst, das Kind könnte noch weiter abrutschen an der Nachhilfe festgehalten.

Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es ein paar Illusionen bei Eltern in Bezug auf den Einzelunterricht gibt.

Illusion 1: Der Lehrer kann sich im Einzelunterricht zu 100% auf das Kind konzentrieren und im Tempo des Kindes erklären.

Es gibt einen Lehrplan und einen Klausurenplan. Alleine deshalb kann man nicht ewig lange an einem Thema hängen bleiben und immer wieder von vorne erklären. Es muss einen Fortschritt geben, damit man weiterkommt. Auch die Nachhilfe muss also in einem gewissen Grundtempo stattfinden, sonst verliert man den Anschluss. Bei einer Stunde Nachhilfe pro Woche muss man 3 Wochenstunden Mathematik aus der Schule abdecken. Bei einem Kind, dass aus der Schule nichts mitnimmt wird das schon schwierig.

Es ist gar nicht so selten, dass Schüler die Nachhilfestunde irgendwie hinter sich bringen und dann vergessen. Sie beschäftigen sich weder mit den Aufgaben aus der Nachhilfe, noch beschäftigen Sie sich mit dem Unterricht und den Aufgaben der Schule. Sie dümpeln relativ ziellos von Tag zu Tag. Mit diesen Schülern tritt man auf der Stelle, es gibt keine Fortschritte. Es ist offensichtlich, dass hier ein anderes Problem vorliegen muss, und die Matheprobleme eine Folge davon sind.

Oft wird Nachhilfe erst gebucht, wenn die Noten schon im Keller sind. Vom Nachhilfelehrer wird also erwartet, dass er die Defizite bearbeitet und gleichzeitig den aktuellen Stoff behandelt. Hier steht man als Nachhilfelehrer von Anfang an unter Druck und muss zwei Anforderungen unter einen Hut bringen. Damit das funktioniert, muss der Schüler eine gewisse Selbständigkeit mitbringen und auch selbst vorwärts kommen wollen. Wenn man beständig gegen den Widerstand des Schülers arbeitet, dann zahlen die Eltern viel Geld für wenig Ergebnis.

Und wenn ein tiefer liegendes Problem die Ursache der Schulprobleme ist, dann befinden sich die Eltern in einer paradoxen Situation: Man zahlt viel Geld für Nachhilfe und die Leistungen gehen nach unten, bis sogar das Abitur gefährdet ist. Natürlich benötigen diese Kinder Mathe Nachhilfe. Aber offensichtlich muss noch an einer anderen Schraube gedreht werden, damit diese Hilfe nicht wirkungslos verpufft.

Illusion 2: Einzelunterricht ist effektiv

Einzelunterricht kann sehr effektiv sein. Oft ist er das aber nicht und um diesen Fall geht es hier. Die Effektivität leidet, wenn das Kind Spielchen mit dem Lehrer spielt. Das muss nicht einmal absichtlich erfolgen, dass passiert meistens unbewusst. Oft erlebe ich das bei Kindern, deren Eltern ihren Kindern nur schwer etwas abverlangen können. Entsprechend haben die Kinder Strategien entwickelt, wie sie bekommen, was sie wollen. Zur Nachhilfe wurden sie verdonnert, also spulen sie hier ein Programm ab, um das Unterfangen zu sabotieren: Man stellt sich dumm, damit der Lehrer alles noch einmal erklären muss, denn dann geht die Zeit schnell rum. Man macht die Aufgaben nicht, denn dann wird der Lehrer sie in der Stunde vorrechnen (wenn er das Spiel nicht durchschaut). Und so gibt es viele Wege, wie man als Schüler dafür sorgen kann, dass man möglichst ohne Anstrengung durch die wöchentliche Nachhilfestunde laviert.

Illusion 3: Es geht nur darum, dass der Stoff mal richtig erklärt wird

Wer mich kennt, der weiß, was jetzt kommt: In der Nachhilfe stellen Schwierigkeiten in einem Fach häufig nur eine Seite des Problems dar. Auf der anderen Seite findet man Defizite in der Leistungsmotivation, fehlendes Selbstvertrauen, Versagensängste oder Kapitulation. Diesen Aspekten ist mit Fachwissen in Mathematik nicht beizukommen, hier benötigt man psychologisches Wissen, Fingerspitzengefühl und Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Wenn der Lehrer diese Voraussetzungen nicht mitbringt dann richtet die Nachhilfe wenig bis gar nichts aus. Wenn die Versagensängste sehr tief sitzen oder das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist zerstört, dann kann man auch als psychologisch geschulter Lehrer nicht wirklich helfen. Hier geht man am besten den Weg über einen Therapeuten in Kombination mit einem Nachhilfelehrer.

Illusion 4: Das Kind ist faul und braucht nur einen Tritt in den Hintern

Wenn in einer Anfrage zur privaten Nachhilfe schon der Wunsch formuliert ist, man möge das Kind bitte motivieren und für eine bessere Lernhaltung sorgen, dann steckt hier im Grunde schon der Fehler. Hier wird versucht, mit Nachhilfe ein Problem zu lösen, das eigentlich woanders liegt.

Wenn das Problem die Lernmotivation ist, dann sollte man auch Hilfe zum Thema Lernmotivation suchen und sich dann im zweiten Schritt um die Mathematik kümmern. Als Lerncoach biete ich hier individuelles Lerncoaching an und Seminare, in denen es genau um diese Thematiken geht. Man kann aber unmöglich beide Thematiken (Motivation und Matheprobleme) mit einer Stunde pro Woche lösen. Das geht nur, wenn die Motivationsproblematik nicht so stark ausgeprägt ist. Beispielsweise wenn das Motivationsloch immer nur in Mathe auftritt und ansonsten läuft es in der Schule.

Illusion 5: Viel hilft viel

Eine Stunde pro Woche bringt keine signifikante Verbesserung? Dann wäre es sinnvoll, etwas anderes zu versuchen. Oft stocken Eltern die Nachhilfe aber auf zwei oder drei Mal pro Woche auf. Wenn man dann auch noch gegen den Widerstand des Kindes arbeitet, kostet das sehr viel Geld und außer Frust und Blockaden baut man nichts auf. Es kann auch sein, dass man das Selbstvertrauen des Kindes noch weiter schädigt: „Jetzt bekomme ich zwei Mal pro Woche Nachhilfe und schaffe nur eine 5. Ich bin ganz schön dumm, denn meine Freundin schafft eine 2 ohne Nachhilfe“.

Ungewollte Effekte des Einzelunterrichts

Neben den Illusionen gibt es noch unerwünschte Nebeneffekte. Diese treten vor allem dann auf, wenn der Einzelunterricht sehr intensiv und/oder über eine lange Zeit statt findet. Das Kind gewöhnt sich daran, dass da jemand ist, der seine Matheprobleme löst. Das kann dazu führen, dass in der Schule nicht mehr aufgepasst wird. Hausaufgaben werden gar nicht mehr versucht, sondern direkt in die Nachhilfe gebracht. In der Nachhilfe entwickelt sich eine Parallelwelt zum Matheunterricht die regelmäßig dann zusammenbricht, wenn eine Klausur geschrieben wird.

Als erfahrener Coach durchschaue ich solche Spielchen. Aber wenn ein Kind auf dieser Schiene unterwegs ist, wird es schwer, Erfolge zu erzielen.

Fazit

Oft wird versucht, mit Einzelunterricht ein Problem zu lösen, das woanders liegt:

  • Arbeitshaltung und Leistungsmotivation des Kindes sind schwach ausgeprägt
  • Das Kind hat keine Frustrationstoleranz erlernt
  • Das Kind hat Blockaden, hat innerlich aufgegeben oder leidet an einer psychischen Störung wie Depression
  • Das Kind wurde durch Überbehütung/Überversorgung in eine Unselbständigkeit erzogen. Mit 16 bekommen die Kinder dann plötzlich zu hören, sie seien alt genug und sollten sich mal selbst um etwas kümmern. Diese Eltern haben den Kindern ein bestimmtes Weltbild anerzogen, das ändert man nicht einfach mal im vorbeigehen.
  • Das Kind ist auf der falschen Schule und einer ständigen Überforderung ausgesetzt.

Bringt das Kind in vielen Fächern unterdurchschnittliche Leistungen und private Nachhilfe verbessert nichts, dann liegen die Probleme definitiv woanders. Die schlechten Noten sind dann ein Symptom dessen Ursache man suchen muss. Nicht selten müssen dann Dynamiken innerhalb der Familie betrachtet werden, so dass der richtige Ansprechpartner in vielen Fällen ein systemischer Familientherapeut wäre. Diese Einsicht haben aber nur wenige…